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»Es war berührend,

nach über zwanzig Jahren

noch einmal ihre Stimme zu hören.«

DIE STIMME MEINER GROßMUTTER

Die Heimkehr-Trilogie

In deiner Heimkehr-Trilogie geht es um die Leiterin eines nationalsozialistischen Frauen-bildungsheims, die Ende der 1920er Jahre ein jüdisches Mädchen bei sich aufnimmt und wie ihr eigenes Kind aufzieht. Wie bist du auf diese Geschichte gekommen?

 

Die Geschichte basiert auf den Lebens-erinnerungen meiner Großmutter, die 1908 geboren wurde. Gegen Ende ihres Lebens hat sie mehr als 130 Kassetten aufgenommen, in denen sie sehr persönlich aus ihrer Kindheit in der Kaiserzeit, ihrer Jugend in der Weimarer Republik, von der Weltwirtschaftskrise, der Zeit während und nach dem Krieg erzählt. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich nicht nur die Welt radikal verändert, sondern auch das Leben meiner Großmutter. Von einer emanzipierten, jungen, an Literatur interessierten Frau wurde sie zur Leiterin mehrerer ländlicher Frauen-bildungsheime während des Nationalsozial-ismus.

Meine Großmutter Klara
Band 1 "Die karierten Mädchen"
Band 2 "Zwischen den Sommern"
Band 3 "Vielleicht können wir glücklich sein"

»Die Trilogie zeigt den ganzen Wahnsinn von Diktatur und Krieg am Beispiel einer Familie, berührend und großartig erzählt.« Ruhr Nachrichten

Was genau ist ein Frauenbildungsheim?

 

Als junge Frau war meine Großmutter Lehrerin in einer Heilstätte für tuberkulosekranke Kinder, in der gleichzeitig junge Mädchen in Hauswirtschaft ausgebildet wurden. Die Schülerinnen kamen oft aus zerrütteten Ver-hältnissen. Die kranken Kinder wurden teil-weise von ihren Müttern zurückgelassen, andere erst nach mehreren Monaten wieder abgeholt. Als die Lage während der Weltwirtschaftskrise immer schwieriger wurde und viele dieser Einrichtungen schließen mussten, hat meine Großmutter die neuen Machthaber um Hilfe gebeten. Nun wurde daraus das erste ländliche Frauenbildungsheim im Deutschen Reich. Fortan mussten alle, die dort lebten, arischer Abstammung sein und es wurde nach nationalsozialistischen Werten erzogen – in ländlicher Atmosphäre mit Kühen, Schweinen und Hühnern. So sicherte sie die Versorgung ihrer Kolleginnen, der Kinder und Schülerinnen. Damit begann aber auch ihre Verstrickung ins NS-System.

Wann hast du diese Kassetten angehört und warst du überrascht, was du darin über deine Großmutter erfahren hast?

 

Die Kassetten begleiten mich, seit ich denken kann. Wenn wir meine Großmutter früher in ih-rem norddeutschen Reihenhaus besucht haben, saß sie manchmal in ihrem Sessel und sprach in ihr Handmikrofon, das an einen Kassetten-rekorder angeschlossen war. Als Kind habe ich natürlich nicht verstanden, dass sie da beinahe ihr gesamtes Leben aufzeichnete. Nach ihrem Tod hat meine Mutter diese Kassetten aufbewahrt, wir Kinder hätten sie uns jederzeit anhören können. Aber es hat dann doch zwanzig Jahre gedauert, bis ich dazu bereit war.

 

Warum war das so?

Meine Großmutter war sehr streng und distan-ziert, es gab viele Vorschriften. Alles was sie sagte, woran sie glaubte, war für die Familie Gesetz, für Mütter, Väter, Onkel, Tanten, Enkelkinder. An meiner Großmutter kam niemand vorbei.  Natürlich hat mich das geprägt. Umso berührender war es, nach über zwanzig Jahren noch einmal ihre Stimme zu hören. Zunächst war ich erstaunt, wie fröhlich sie klingt, wenn sie von ihrer Jugend erzählt. So unbekümmert hatte ich sie nie erlebt. Ich lernte sie noch einmal neu kennen und lieben. Je näher die Zeit des Nationalsozialismus rückt, umso rigider wird dann allerdings ihre Stimme.

Die karierten Mädchen

Wie viel von den Lebenserinnerungen deiner Großmutter sind in den Roman eingeflossen?

Sind deine Protagonistin und deine Großmutter im Grunde eine Person?

 

Ich habe versucht, so viel wie möglich von den geschilderten Ereignissen in ›Die karierten Mädchen‹ einfließen zu lassen, um die Leser-innen und Leser diese Zeit so authentisch wie möglich erleben zu lassen. Aber Klara Möbius ist nicht meine Großmutter. Das liegt daran, dass ich beim Anhören der Kassetten nach einer Weile gemerkt habe, dass sie einige Dinge nicht erwähnt.

Welche Dinge waren das?

 

Ereignisse, die beschreiben, wie sich die Natio-nalsozialisten nach und nach alle Bereiche der Gesellschaft unterwerfen. Wie die Brutalität zu-nimmt, die Freiheit schwindet. Wie Anders-denkende ausgeschlossen und verfolgt werden. 

Meine Großmutter erzählt sehr gut und lebhaft von den Heimen, die sie leitete, von den Schülerinnen, den Kindern, den Mitarbeitern, den nationalsozialistischen Funktionären, die das Haus besuchten. Sie schildert Räume, Kleidung und Gespräche, welche Bücher gelesen und welche Veranstaltungen besucht wurden. Wie sie meinem Großvater zum ersten Mal begegnet. Sogar die Vegetation und das Wetter beschreibt sie. Nur eben nicht, dass ein paar Gehminuten entfernt die Synagoge brannte.

Das Kinderkurheim Oranienbaum 1930

Wie erklärst du dir, dass sie gerade über diese für die deutsche Geschichte so wichtigen Geschehnisse geschwiegen hat?

Natürlich habe ich mich gefragt, warum meine Großmutter nichts von diesen erschütternden Eignissen erzählt. Wenn man ihr auf den Kassetten genau zuhört, stellt man fest, dass sie in manchen Momenten zögert oder nach Formulierungen sucht, um das für sie wohl Unaussprechliche nicht aussprechen zu müssen. Ich glaube, sie hatte wirklich den Anspruch, das Vergangene so korrekt wie möglich wieder-zugeben. Andererseits wollte sie sicher von einem sehr bewegten, herausfordernden, aber auch gelungenen und erfolgreichen Leben berichten. Dafür musste sie Dinge auslassen. Das zu erkennen, hat mich sehr beschäftigt: Wer war meine Großmutter eigentlich?

Kurkinder stehen zum Empfang bereit

Wie bist du beim Schreiben mit dieser Frage umgegangen? Der Roman erzählt ja subjektiv und beinahe minutiös, wie alles angefangen hat mit dem Nationalsozialismus.

 

Anfangs habe ich mich an dem orientiert, was meine Großmutter auf Band aufgenommen hat. Natürlich konnte ich längst nicht alles verwen-den, es ist einfach zu viel Material. Also habe ich mich für bestimmte Szenen von 1929 bis 1939 entschieden und diese zu einer Handlung dramatisiert. Gleichzeitig habe ich sehr viel recherchiert über die Gegend und die Zeit, in der das Buch spielt: in Büchern, Museen, Archiven, historischen Zeitungen, Doku-mentationen und Tonbandaufnahmen. Neben den Kassetten existieren noch zahlreiche Foto-grafien, die meine Großmutter als junge Frau gemacht hat, Briefe zwischen ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrem Mann, meinem Groß-vater, der ihr von der Front und aus der Kriegs-gefangenschaft in Sibirien geschrieben hat. Ich habe auch die beiden Heime besucht, die meine Großmutter geleitet hat. Anschließend habe ich angefangen, meine Recherche mit den Erinnerungen meiner Großmutter zu verweben, um die Leerstellen zu füllen. Die Boykottaufrufe für jüdische Läden, die »Säube-rung« des Dessauer Theaters, die Schließung des berühmten Bauhauses, Verhaftungen von Sozialdemokraten. Das war einerseits sehr spannend, andererseits muss ich gestehen, dass ich beim Schreiben hin und wieder mit den Tränen kämpfen musste. 

Vieles von dem, was damals passiert ist, ist einfach unerträglich. Dennoch wollte ich diese erschütternde Zeit aus der Perspektive einer lebensfrohen, jungen Frau erzählen, die eben noch nicht so wissend ist, wie wir es heute sind. So habe ich meine Romanfigur Klara Möbius gefunden.

Ist das der Grund, warum du das jüdische Waisenmädchen Tolla in den Roman aufge-nommen hast, die einzige Figur, die nicht im Leben Deiner Großmutter existierte?

 

Tolla symbolisiert für mich die Unschuld, die der Gesellschaft und auch Klara in dieser Zeit verloren ging. Als Baby kommt Tolla in das Heim und wächst Klara schnell ans Herz. Als es für die jüdische Bevölkerung immer gefährlicher wird, gibt sie Tolla als ihre eigene Tochter aus, weil sie denkt, das Heim sei ein sicherer Ort. Doch irgendwann schickt sie das Mädchen weg, in der Hoffnung, Tolla, aber auch ihre eigene Karriere retten zu können. Längst ist Klara Teil des Systems geworden.

Tollas Geschichte ist dennoch nicht ganz fiktiv. Tatsächlich gab es dieses Mädchen. Nur eben nicht im Leben meiner Großmutter. Als Elfjährige kam sie mit ihrem Bruder mit einem der Kindertransporte nach Frankreich. Die anschließende Flucht quer durch Europa hat sie nicht überlebt. Ihr Bruder gelangte nach New York und wurde später einer der Mitbegründer des Summer of Love in San Francisco.

 

Was hat die Arbeit an ›Die karierten Mädchen‹ für dich persönlich bedeutet?

 

Ich wollte eine Auseinandersetzung über das, was war und noch immer so schwer zu verste-hen ist. Durch das Schreiben bin ich dem Leben meiner Großmutter zum ersten Mal wirklich nahegekommen. Als käme ein Gespräch zustande, wer sie war und warum sie gehandelt hat, wie sie gehandelt hat.

Schlafsaal im Kinderkurheim Oranienbaum
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